top of page
  • AutorenbildMaycaa

Mounira Latrache: „Mein Migrationshintergrund hat mir eine andere Offenheit gegeben für Innovation“

Aktualisiert: 16. Apr. 2023

Mounira Latrache hat ihren Job als Pressesprecherin bei Google gekündigt, um das Start-Up Connected Business zu gründen. Sie ist ausgebildet als systemischer Coach und Yogalehrerin und gibt Workshops zu Achtsamkeit und emotionaler Intelligenz im Berufsleben. Davor war sie unter anderem Marketingmanagerin bei Red Bull und Projektmanagerin bei BMW.


Im Gespräch mit SWANS erzählt sie, wie es war, als Kind tunesischer Eltern in Bayern aufzuwachsen, wer ihre Vorbilder sind und wie ihr Anderssein im Berufsleben dabei geholfen hat, neue Ideen umzusetzen. Das Gespräch führte Maycaa Hannon.


Mounira Latrache
Mounira Latrache

SWANS: Wie würdest du deine Kindheit beschreiben?


Latrache: Ich bin geboren und aufgewachsen im tiefsten Bayern und meine beiden Eltern sind aus Tunesien, damit bin ich das klassische Integrationskind. Mein Vater kam in der Nachkriegszeit als Gastarbeiter nach Deutschland. Damals fuhren Autos durch die tunesischen Dörfer und haben förmlich jeden eingeladen, der sich im Entferntesten vorstellen konnte, in Deutschland zu arbeiten. Nach ein paar Jahren hatte er sich entschlossen, zu heiraten. Er entschied sich, eine Tunesierin zu heiraten.


Meine Eltern hatten keine Kennenlernphase, sondern haben sich so richtig durch eine arrangierte Ehe kennen gelernt. Im tiefsten Bayern bin ich teilweise als einziges Ausländerkind in der Klasse groß geworden. Damals war es noch nicht so Multi-Kulti wie heute. Was sich auf jeden Fall durch mein Leben durchgezogen hatte, war die Tatsache, dass ich nicht wirklich in eine der beiden Welten reingepasst habe. Ich denke, so geht es vielen Migrantenkindern.


Meine Eltern haben immer zu mir gesagt: "Du bist Tunesierin!" Da ich in Bayern geboren wurde und hier aufgewachsen bin, war ich aber auch deutsch. Meine Freunde und mein damaliges Umfeld haben mich immer gefragt: "Wo kommst du her?" Es war ja vom Aussehen sehr offensichtlich, dass ich keine Deutsche war. Die Frage stellen mir auch heute noch die Leute. Es war mir also klar, Deutsche kann ich nicht sein. Da spielt der Fakt, dass man hier geboren ist, keine Rolle. So werde ich einfach nicht gesehen. Ich habe mich nicht ausgegrenzt gefühlt, weil ich wusste, dass die Leute aus Interesse fragen und nicht, weil es einen rassistischen Hintergrund hat. Wenn du Jugendliche bist, dann stört dich das total.


Du bist anders! Aber eigentlich willst du nur dazugehören und so sein wie die anderen. Wie die anderen sein, das war schwierig, alleine schon mein Vorname - den konnte keiner aussprechen, meinen Nachnamen erst recht nicht. Bei meinen Haaren ist es ähnlich. Ich habe sehr lockiges Haar, aber ich fand sie furchtbar und wollte immer glattes Haar, wie die anderen Mädchen in meiner Schule.


SWANS: Diese Erfahrungen kennen unsere Leserinnen und wir im SWANS Team auch aus unserer Kindheit. Wann hat sich das für dich verändert? Wie siehst du es heute?


Latrache: Ich habe irgendwann den Punkt erreicht, wo ich gesagt habe: Wenn ich nicht das eine oder das andere bin, dann kann ich es mir ja eigentlich aussuchen. Ich habe mir dann einfach das Beste aus beiden Kulturen ausgesucht und dann habe ich irgendwann mich gefunden und gesagt: "Das bin ich jetzt einfach!" Das ist spannenderweise auch etwas, das mir im Arbeitsleben total geholfen hat.


Diese Einstellung, dass ich verstanden habe, ich kann es mir immer aussuchen. Das ist ein Talent, das habe ich in meinem beruflichen Werdegang total ausnutzen können, weil ich nicht in Schubladen gedacht habe. Ich musste ja immer meinen eigenen Weg finden. Ich fand es spannend, dieses Anderssein, neue Wege gehen, innovativ denken! In vielen Weisen war es für mich sehr natürlich, während es für andere oft eine Schwierigkeit war. Ich war es gewohnt, Sachen zu hinterfragen und sage häufig schneller als andere "Lass mal anders machen". Dadurch war ich natürlich ein andersartiger Vogel im Konstrukt, aber was ich gemacht habe, hat häufig einfach funktioniert. Damit war es ein gutes Beispiel für andere. Wichtig war: Mir was es egal, ob Leute es zu Beginn toll fanden. Ich konnte es durchziehen bis zum Schluss. Das lag auch mit Sicherheit daran, dass ich es gewohnt war, nicht rein zu passen. Ich denke, mein Migrationshintergrund hat mir eine ganz andere Offenheit gegeben für Innovation und einen einzigartigen Blick für neue Wege und neue Lösungen.


SWANS: Hast du das Gefühl, du wurdest in deinem Leben mehr gefördert oder unterschätzt?


Latrache: Ich hatte schon immer wieder Lehrer, die meiner Mutter suggerierten, dass aus mir nie was werden würde - einem Lehrer zu widersprechen, wurde nicht von allen gern gesehen... Und ich hatte auch Glück: Ein paar Lehrer haben erkannt, dass ich eine kreative Kraft habe. Im Berufsleben war es ähnlich. Ich hatte immer Vorgesetzte, die mich machen lassen haben. Die mir in meiner Andersartigkeit eine Unterstützung waren und mich immer motiviert haben, weiter zu machen. Ich habe mich immer darauf konzentriert, dass ich sehr gute Leistung bringe und habe das immer in den Vordergrund gestellt. Mein Migrationshintergrund war nie ein Identifikationsthema. Auch mein Dasein als Frau habe ich nicht in den Vordergrund gestellt. Ich habe fest geglaubt, dass ich alles machen kann, was ich möchte. Jeder Job und jedes Projekt, solange ich zeige, was ich kann. Es konnte mich gar nichts aufhalten, mein Wille war viel zu groß dafür!


SWANS: Nur aufgrund unserer Leistung aufzufallen und durch unseren starken Willen unsere Ziele zu erreichen ist der Traum für viele. Die öffentliche Debatte diskutiert eine Frauenquote als Möglichkeit, Frauen in Führungsposition zu kriegen, um diesen Traum zu realisieren. Wie stehst du dazu?


Latrache: Für mich ist die Frage der Quote nicht entscheidend. Es ist doch eher so, dass Frauen auf eine andere Weise arbeiten wollen. Sie haben einfach andere Vorstellungen davon, wie sie arbeiten möchten. Sie brauchen einfach andere Umfelder in ihrer Arbeit. Ich glaube, dass ganze viele Frauen nicht in diesen Positionen sind, weil sie kein Bock haben, sich zu verhalten wie die Männer, die diese Positionen innehaben. Deswegen ist es für mich wichtiger, dass Firmen Kulturen schaffen, in denen sowohl die "männlichen", als auch die "weiblichen" Qualitäten Raum haben. Das ist das Prinzip der Arbeit, die ich zurzeit mache. In meinem neuen Start-Up "Connected Business" geht es darum, dass diese Qualitäten entscheidend sind für ein Unternehmen: Eine offene Kultur macht es möglich, die Einzigartigkeit und das Talent jedes Einzelnen zu integrieren und Menschlichkeit wieder in den Vordergrund zu stellen.


Frauen haben nun mal ein gutes Gespür für das Gruppensystem und sie gehen zum Teil auch mit Feingespür an Sachen ran. Wobei ich da nicht sagen will, dass Männer das nicht haben. Diese Qualitäten sind in beiden Geschlechtern vertreten, nur kann das gar nicht so sehr ausgelebt werden, weil die Frau das nicht einbringen kann in diesen Positionen. Es ist für mich wichtiger, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen den "männlichen" und "weiblichen" Qualitäten. Dann glaube ich, dass es automatisch mehr Frauen in Führungspositionen geben wird. Wenn ich mich aber wie ein Mann verhalten muss, dann habe ich da oft keinen Bock darauf.


Ich war ja jahrelang selbst Führungskraft und habe lange nach Vorbildern gesucht. Ich fand viele Frauen in ihrer Arbeit als Führungsposition nicht weiblich, sie haben "männerartige", harte Seiten in ihrer Arbeit gezeigt und so wollte ich nicht sein. Ich will Frau sein, ich will weiblich sein, ich will weich sein UND eine geile Führungskraft. Danach habe ich gesucht, das haben mir die Vorbilder nicht gegeben. Ich habe mich lange gefragt warum. Die Antwort ist: Viele Arbeitsbereiche sind weiterhin männliche Systeme, in denen du nur weiter kommst, wenn du dich auch "männlich" verhältst. Das gehört für mich verändert. Für mich ist diese Diskussion fast so wichtig wie die Quotendiskussion, oder sogar wichtiger.


SWANS: Wer waren bisher deine Vorbilder? Von wem hast du viel gelernt und zu wem hast du aufgeschaut?


Latrache: Als Kind hatte ich aus dem öffentlichen Leben kaum Vorbilder. In meinem privaten Leben, da war meine Mutter mein großes Vorbild. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich sieben war und meine Mutter hat alleine drei Kinder großgezogen. Sie hat immer einen Weg gefunden, Sachen für uns möglich zu machen. Selbst heute mit Mitte 50 hat sie ihren Bäckerei-Job gekündigt, um eine Ausbildung anzufangen. Man muss sich vor Augen führen, dass sie damals nach Deutschland kam und nicht die Sprache konnte, sie hat sich das selber beigebracht und mit 50 hat sie sich für eine neue Karriere entschieden. Sie hat uns viel über Offenheit und Toleranz beigebracht, obwohl sie ja in Tunesien aufgewachsen ist mit einer anderen Religion und einer anderen Art, wie mit Frauen umgegangen wird.


In meinem erwachsenen Leben bin ich tollen Frauen begegnet. Diese Vorbilder kamen erst in den letzten Jahren in mein Leben hinzu. Zum Beispiel finde ich Brené Brown (US-amerikanische Psychologieprofessorin und Buchautorin, Anm. d. Red.) eine großartige Frau. Ich mag ihre authentische, offene Art, über wichtige Themen in unserer Welt zu sprechen. Eine meiner Lehrerinnen heißt Ana Forrest. Von ihr habe ich so viel gelernt. Sie ist eine super authentische, wahrhaftig und weiblich und stark zugleich. Das sind die zwei Frauen, von denen ich viel gelernt habe und die ich zu meinen Vorbildern zähle.


SWANS: Du hast eine erfolgreiche Karriere als Marketing-Managerin und hast beeindruckende Arbeit für YouTube als Pressesprecherin und als Leitung für den YouTube Space. Wie kommst du zu deiner neu gegründeten Firma Connected Business?


Latrache: Ich habe mich immer wieder im Verlauf meiner Karriere gefragt, was mir wichtig ist und was für ein Mensch ich sein will. Vor etwa zehn Jahren war ich an einem Punkt, an dem ich in den Spiegel schaute und bemerkte, dass ich die Person nicht besonders mochte - ich bin nicht dem gefolgt, was mir eigentlich im Leben wichtig war. Das hat mich motiviert, noch mehr Fragen zu stellen: Was sind meine Werte? Was für ein Mensch will ich sein und was will ich in dieser Welt beitragen?


Dann habe ich schnell festgestellt: Ich möchte wirklich etwas verändern. Und so habe ich angefangen, mich in meiner normalen Karriere, egal welchen Job ich angenommen habe, zu fragen: Folgt er auch diesen Werten? Kann ich mit diesem Job auch meiner Leidenschaft folgen? Eine meiner Leidenschaften ist tatsächlich, andere Leute zu empowern, ihren Weg zu finden.


Als ich dann bei Google als Pressesprecherin für YouTube angefangen habe, habe ich mich gefragt: Wie kann ich hier andere Leute empowern? Ich habe da immer Wege gefunden. Es war zwar nicht mein Kernjob als Pressesprecherin, aber das hat mich viel erfolgreicher gemacht, als mich nur auf meinen Kernjob zu konzentrieren. Letzten Endes hat das auch zu meiner Beförderung geführt, sodass ich dann die Leitung des YouTube Space übernommen habe. Meine Vorgesetzten waren der Meinung, ich mache den Job ja eh schon. Das war aber nie mein Ziel. Mein Ziel war, den Leuten zu helfen, ihren Weg zu finden. Das habe ich halt in meinen Job immer integriert.


Nach einiger Zeit habe ich dann für mich selbst erkannt, dass ich das gerne mit anderen teilen möchte. Ich wurde häufig gefragt, wie ich das vereinbaren kann und wie ich das umsetze. Ich wollte diese Erfahrung auch teilen, also habe ich zunächst bei Google intern angefangen, Kurse und Workshops zu geben. Das habe ich dann in Absprache mit meinem Vorgesetzten in 20 Prozent meiner Arbeitszeit gemacht. Mein Chef hat sich zunächst gewundert, denn ich hatte ja schon einen Job, der meine Zeit mit genug Aufgaben abgedeckt hatte. Dann noch ein zusätzliches 20 Prozent-Projekt. Als er dann in dieser Zeit gesehen hat, wieviel besser ich in meinem Hauptjob war, war er richtig begeistert. Die Arbeit war gar nicht so viel anstrengender oder mehr, ich war einfach nur so empowert und effektiver, weil ich zwei Sachen gleichzeitig gemacht habe. Diese Workshops habe ich zunächst im Rahmen des 20 Prozent-Projekts gemacht und habe da Workshops weltweit gegeben und mehrere Ausbildungen gemacht, die nichts mit meinem Job zu tun haben.


Ich war bisher Marketing-Managerin und Pressesprecherin und habe mich nebenbei zum Search Inside Yourself Trainer ausgebildet, ein Coaching und mehrere Yoga-Ausbildungen gemacht. Ich fand es sehr wichtig für mich, und meine Arbeit hat davon sogar noch mehr profitiert. Ich wollte einfach meiner Passion folgen.


Nach einiger Zeit wurde ich immer häufiger darauf angesprochen, ob ich diese Seminare und Workshops auch in anderen Firmen außerhalb von Google halten kann. Ich wurde häufiger zu Konferenzen eingeladen, um Vorträge und Workshops zu halten, bis ich irgendwann gedacht habe: Ich würde eigentlich gerne all die Leute, die ich treffe, mehr vernetzen und in einer Business-Konferenz zusammenbringen. Diese habe ich mit zwei Bekannten ins Leben gerufen und sie war in kürzester Zeit ausgebucht. Ich habe dadurch erkannt, dass das Thema sehr gefragt ist. Ich habe angefangen, verschiedene Kurse öffentlich anzubieten und irgendwie wurde daraus immer mehr und ich habe gemerkt, ich hatte keine Zeit mehr.


In das 20 Prozent-Projekt hatte es schon lange nicht mehr reingepasst und ich war bereit, viel Freizeit dafür zu investieren. Dann war die Entscheidung irgendwann da. Ich liebe zwar meinen Job bei YouTube und ich liebe das Team, das ich zu diesem Zeitpunkt geführt habe, aber ich will auch meiner Passion und dem, womit ich am meisten zu dieser Welt beitrage, folgen. Wenn du neue Wege gehst, dann kommt das mit viel Widerstand und Herausforderungen. Man muss damit leben können, dass nicht alle diese Entscheidungen verstehen und einen auch zunächst komisch finden können. Aber wie wir zu Anfang schon gesagt haben, neue Wege erfordern etwas Mut und den Willen für Innovation, aber das fällt uns nicht leicht, aber wenn wir es einmal getan haben, tun wir es immer wieder.


SWANS: Danke für das Gespräch!

bottom of page